Akt 2: Soggetto-Kontrapunkt

Nachdem die soggetti nun klar sind, sei die Verbindung der einzelnen soggetti noch genauer untersucht. Meines Erachtens stellt die kontrapunktische Konzeption der einzelnen soggetti zueinander eine große Besonderheit des Madrigals dar. Wie die Verbindung der Themen kontrapunktisch gemacht ist und welche Techniken dabei verwendet werden, wird im folgenden gezeigt.

Stretta-Kanons

Die Technik von Stretta-Kanons wird in vielen Traktaten im späten 16. Jahrhundert beschrieben.Der meistrezipierte italienischer Autor ist wahrscheinlich Gioseffo Zarlino. Ich verwende im Folgenden die Begriffe, die Immanuel Ott in seiner Studie „Kanontechniken bei Josquin“ entwickelt. Ott wertet verschiedene Traktate aus und entwickelt eine für heutige Zwecke angepasste einheitliche Terminologie, die mir für die Analyse hier am geeignetsten erscheint. Die Entwicklung eines Sogettos zur kanonischen Verwendung ist dabei im Wesentlichen von den Intervallschritten des Gerüstsatzes abhängig.Wie Stretta-Kanons einfach hergestellt werden können, wird hier nicht näher erläutert. Stattdessen ist dies bei Immanuel Ott (Ott, 2014) gut nachzulesen. Eine Quelle um 1600 in Deutschland ist Seth Calvisius' Melopoiia, cap. 19 ff. („fuga ligata“) In „Piang'e sospira“ ist ein erster Stretta-Kanon in Mensur 19 und 20 zwischen Canto und Alto angelegt (vgl. die erste Abb. unten}). Ein weiterer folgt beispielsweise in Mensur 25-26 wieder zwischen den beiden Stimmen, nur dass der Alto nun vorangeht.

Kombination 1 Kombination 2

Diese Engführung der soggetti zu „ne la scorza“ und „segnò l'amato nome“ gelingt auf Grund der Intervallstruktur, die aus aufsteigenden Quarten (4↑) und fallenden Terzen (3↓) besteht. Da beide soggetti aus denselben schritten zusammengesetzt sind (vgl. die folgende Abb.) wäre auch alle diese Kanons zwischen den beiden soggetti möglich.

43-Motive

In Mensur 19 auf 20 ist ein Kanon in der Unterquinte zu finden in Mensur 25 f. ist es ein Kanon in der Oberoktave. Die Intervallschritte der beiden soggetti funktionieren für beide Einsatzabstände (Vgl. Abb. \ref{abstaende}). Theoretisch wären auch noch die Sexte aufwärts und die Quinte abwärts möglich. Die Prime tritt als Diminutionsintervall auf.

Unterquint-Kanon:Oberoktav-Kanon:
6↑6↑
4↑4↑
3↑
2↑
11
3↓3↓
5↓5↓

Die Ähnlichkeit der soggetti hat demnach außer dem Textbezug auch handfeste kontrapunktische Ursachen. Die Intervallstruktur erlaubt es Monteverdi die einzelnen Linien unterschiedlich zu kombinieren und ineinander zu verflechten. Die Flexibilität ist vor allem auch hinsichtlich des Einsatzabstand beachtlich. Nicht nur der an den beiden Stellen verwendete Abstand von einer Semibrevis oder zwei Semibreven ist möglich, sondern auch drei oder vier Semibreven wären im Unterquintkanon theoretisch ohne Dissonanzen möglich. Die folgende Abbildung zeigt die Varianten für den Unterquintkanon. Beim Oberoktavkanon sind es immerhin noch zwei Möglichkeiten: Entweder eine oder zwei Semibreven.

43-Motive

Und noch ein weiteres soggetto entspricht diesen kanonischen Vorgaben. Die Linie von „e quand'i caldi raggi fuggon“ folgt demselben Aufbau aus 3↓ und 4↑. Ebenfalls mit den genannten Einsatzabständen lässt es sich problemlos in einen Kanon mit den beiden anderen soggetti integrieren, was bereits in Mensur 13 geschieht. Da die soggetti mit dem jeweils anderen Intervall beginnen, können sie hier gleichzeitig starten. Die bekannte kanonische Anlage in der Oberoktave zwischen Canto und Tenore entsteht, wobei der Alto als dritte Stimme in Terzparallelen zum Canto geführt wird. Der Tenore und Alto stehen also im Obersext-Kanon zueinander, womit eine dritte Möglichkeit der kanonischen Führung mit den Intervallschritten 3↓ und 4↑ ausgelotet wäre (vgl. die Tabelle zur Übersicht über die Schrittmöglichkeiten in den Kanons). Die nächste Abbildung zeigt den entstehenden Gerüstsatz. Auch diese Variante funktioniert mit unterschiedlichen Einsatzabständen wobei vier Semibreven zu Quintparallelen führen.

Terzparallelen

Da den drei soggetti dieselben Intervallschritte zu Grund liegen, nennen wir sie für jetzt die „4↑-3↓-soggetti“ (Siehe Abb. unter der Tabelle).

Unterquint-Kanon:Oberoktav-Kanon:Obersext-Kanon:
6↑6↑6↑
4↑4↑4↑
--3↑--
2↑--2↑
111
3↓3↓3↓
5↓5↓5↓
43-motive-alle

Längere Einsatzabstände

Während Stretta-Kanons in gewissem Umfang durchaus improvisierbar sind lassen sich die weiteren Einsatzabstände des chromatischen Piang'e-Motivs (zwischen 4 und 8 Semibreven) sich fast nur auf dem Papier konzipieren.Zarlino und Calvisius führen vor allem das Problem an, dass man bei weiteren Einsatzabständen mehr Intervallkonstellationen beachten und mehr Musik im Gedächtnis behalten muss. Betrachtet man das Motiv ohne seine chromatische Anreicherung wird aber auch hier klar, dass der Kern des Motivs auf einer aufsteigenden Sekunde mit zwei Breven besteht (anfangs b-c) und „sospira“ sich eine weitere Sekunde höher anschließt und dann eine Terz und eine kleine Sekunde fällt (siehe Abb. unten). Die chromatischen Schritte sind deshalb zunächst vernachlässigbar, weil sie im Intervallsatz zwar qualitativ wichtig sind, aber grundsätzlich an den Konsonanzverhältnissen nichts ändern. Die Stammtonhöhe soll für den Moment daher ausreichen, um einen Blick auf die möglichen Kombinationsmöglichkeiten mit den „4↑-3↓-soggetti“ zu werfen. Hartmut Schicks Meinung, dass das chromatische Motiv „alles andere als geschickt gewählt [ist] im Hinblick auf die kontrapunktische Verarbeitung“Schick 1998, S. 340. muss deshalb auch aus kompositions-technischen Gründen widersprochen werden. Stufenweise Fortschreitungen sind in Vorlagen ein ganz normaler wenn nicht der vorherrschende Fall.

piagnesospira

Die langen Werte und das langsame stufenweise Fortschreiten steht im Kontrast zu den eher rhythmisch schnelleren „4↑-3↓-soggetti“. Rein kompositions-technisch ist diese Anlage aber nicht ungewöhnlich, sondern erinnert an die Technik von cantus-firmus Bearbeitungen, bei denen eine Melodielinie in langen Noten von Stretta-Kanons begleitet wird.Auch hier bieten Zarlino und Calvisius eine Menge Lehrmaterial an. Didaktisch aufgarbeitet ist die Technik bei Barnabé Janin (Janin 2012).} Wie ein solcher Gerüstsatz mit den beiden nun vorgestellten aussehen kann, zeigt die folgende Abbildung in zwei Beispielen. Die Chromatik des „piagn'e“-soggettos ist in Variante 1 reduziert auf die Sekundschritte in Variante 2 wird die chromatische Linie angedeutet.

c-f-beispiel

Insgesamt verteilt Monteverdi dieses „cantus-firmus“-soggetto über eine sehr weite Strecke insgesamt acht Mal setzt das piagn'e-Motiv an, nicht immer folgt auch ein „sospira“-Motiv.Z.B. Bass in Mensur 33. Vier Einsätze beginnen auf b vier auf f. Die Verschachtelung des soggettos zu Beginn, wenn der Canto bereits nach 4 Seinbreven einsetzt, bleibt dem Anfang vorbehalten.

soggetti zum Füllen und Kadenzieren

Zwei gewichtige soggetti war noch nicht Thema, obwohl sie den Kern des Textes transportiert. Der Text „e de la sua fortuna gravi oltraggi / e i vari casi in dura scorza incise“. Monteverdi legt rhetorisch viel Gewicht in den rhythmisch prägnanten Beginn des sogetto. Was dann folgt, ist ein rezitierender Fluss, der für die zirkulierende Sogwirkung des gesamten ersten Teils hauptsächlich verantwortlich ist. Jeweils auf die zweite Silbe von „oltraggi“ senkt sich das Motiv um eine Sekunde. Dieser Schritt ist eine kontrapunktisch prädestinierte Stelle um mit einem soggetto eine Dissonanzauflösung zu komponieren, was nicht immer aber oft geschieht. Zum ersten Mal gleich beim ersten Einsatz im Alto (M. 33). Ganz abgesehen davon ist mit dieser melodischen Anlage auch sofort die Verarbeitung im Stretta-Kanon möglich, was an derselben Stelle auch zwischen Tenore und Alto geschieht:

4-stimmen-1

Die zweite Zeile „e i vari casi“ schließt auf dem erreichten tieferen Ton an. Eine ganz andere Behandlung und ein zweites, melodisch auffälliges soggetto legt Monteverdi auf den Schluss der Zeile („in dura scorza incise“). Schon allein die große Sexte abwärts ist melodisch ein äußerst modernes Element. Das „dura“ scheint hier den Affekt zu bestimmen. Übersteigert wird dieser Sprung, der normalerweise innerhalb des soggettos mit zwei oder drei Sekunden aufwärts aufgeglichen wird, nur im Tenore ab Mensur 57 ff. wo eine weitere Sekunde abwärts folgt. Zudem wird die Linie durch die folgende Spiegelung des Sextsprungs -- es ist wieder die große Sexte g-e, die etwas quer im Modus liegt -- wieder nach oben verlagert. Der Schluss des sogettos „incise“ hält eine Tenorklausel bereit, die in der Regel auch für eine kleine geflohene Binnenkadenz genutzt wird. In dieser Eigenschaft ist das sogetto mit dem Ende von „e quand'i caldi raggi“ verbunden, wo der Text „le gregi a la dol-ce ombr'assise“ je nach Situation mit einer Tenor- oder Sopranklausel endet.